Verantwortung für Täter - Interview mit Claudia Schwarze

Liebe Frau Schwarze, wer genau kommt zu Ihnen in die Ambulanz?

90 Prozent unserer Klienten sind wegen begangener Sexual- oder Gewaltstraftaten über ihre Bewährungsauflagen verpflichtet, sich behandeln zu lassen. Zehn Prozent kommen aus eigenem Antrieb. Wir konzentrieren uns in der Fachambulanz auf diejenigen, von denen wir annehmen, dass sie mindestens ein mittleres oder hohes Risiko für neue Übergriffe haben. Das sind, anders als viele glauben, im Bereich der Sexualstraftaten nur etwa 15 %. Bei der Altersspanne ist fast alles abgebildet: Wir arbeiten nur mit Volljährigen, die Jüngsten sind 18, es kommen aber auch über 70-Jährige. Frauen sind bei uns übrigens die absolute Ausnahme.

Dieses »hohe Rückfallrisiko«, wovon hängt das ab?

Es gibt verschiedene Risikofaktoren, die Menschen mitbringen – je mehr davon, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer neuen Tat. Die meisten sind soziale und psychische Faktoren: Ein Beispiel: Zu einer Trennung kommen persönliche Einsamkeit, vielleicht der Jobverlust oder eine depressive Phase hinzu, doch der Betroffene findet aus dieser Lebenssituation selbst nicht heraus. Möglicherweise fällt es ihm aber leichter Kontakt zu Minderjährigen aufzunehmen und er meint, eine Art Partnerschaft mit einem Jugendlichen zu führen. So können sich sexuelle Übergriffe anbahnen. Eine solche Situation entsteht aber bei vielen nur einmal im Leben. Und dann gibt es Menschen, die generell sexuell erregt werden durch einen kindlichen Körper und mit erwachsenen Personen keine Sexualität leben können. Das ist nichts Einmaliges, damit müssen die Betroffenen ihr Leben lang klarkommen.

Wie kann Therapie dann helfen?

Es gibt mehrere größere Studien, die zeigen, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Menschen, die sich therapieren lassen, um 25 % sinkt. Wir arbeiten in unserer Fachambulanz in der Regel verhaltenstherapeutisch. Am Anfang entwickeln wir zusammen ein sogenanntes Deliktmodell, um sichtbar zu machen, was zur Straftat geführt hat. Wenn etwa Langeweile oder Einsamkeit entscheidend waren, dann könnte das Behandlungsziel sein, einen Freundeskreis aufzubauen, sinnvolle Freizeitaktivitäten zu finden. Ist jemand schnell gereizt und reagiert aggressiv, kann bei ihm das Behandlungsziel sein, seinen Ärger adäquat auszudrücken.

Die Haltung, dass ehemalige Sexualstraftäter weggesperrt, anstatt therapiert werden müssten, ist verbreitet. Was antworten Sie?  

Wenn Menschen wieder in die Gesellschaft integriert werden können, sinkt auch das Risiko für weitere Straftaten. Ausgrenzung dagegen erhöht dieses. Straffällig gewordenen Menschen die Chance auf einen Rückweg zuzugestehen, sie Mitmenschen sein zu lassen, hilft also präventiv. Das heißt nicht, dass begangene Taten nicht schlimm sind oder ausgeblendet werden sollten. Tatsache ist aber auch, dass gerade im Bereich der Sexualstraftaten 85 bis 90 Prozent der verurteilten Personen nicht wieder rückfällig werden.  Ihnen pauschal die Daseinsberechtigung in unserer Gesellschaft zu entziehen, passt aus meiner Sicht weder zu einem demokratischen Rechtsstaat noch zum christlichen Menschenbild. Ich glaube, wir haben eine gesellschaftliche Verantwortung, sowohl für die Entwicklung der Menschen bevor sie das erste Mal straffällig werden, als auch danach.

Die Fachambulanz ist 2019 10 Jahre alt geworden. Was hat sich seither verändert?

Unsere Fachambulanz ist eine von dreien in Bayern. Seit sechs Jahren behandeln wir neben Klienten mit Sexualstraftaten auch Menschen, die nicht-sexuelle Gewaltstraftaten begangen haben. Gestartet haben wir mit zwei Psychologen*innen, damals nahmen wir fast noch »jeden Klienten« auf. Heute sind wir sechs Mal so viele Therapeuten*innen, haben eine lange Warteliste und arbeiten ausschließlich mit Klienten, die ein hohes Rückfallrisiko, i.d.R. also auch Auflagen haben, sich behandeln zu lassen. Das sind die, die anderswo bei niedergelassenen Therapeuten*innen durchs Raster fallen, weil keiner etwas mit ihnen zu tun haben will. Unsere Klienten sind anfänglich meist ziemlich skeptisch – Vertrauen entsteht erst im Laufe der Therapie.

»Was bleibt ist die Veränderung«, sagten Sie 2019 vor etwa 180 Kollegen*innen aus ganz Deutschland, die zum 10-Jährigen zu einem Fachtag nach Nürnberg eingeladen waren. Welche Schritte geht die Fachambulanz als nächstes?

Zum Ende des Jahres eröffnen wir eine Außenstelle in Regensburg, um die Anreisewege von Klienten zu verkürzen, die jetzt noch bis zu 150km einfach zur Therapie zurücklegen. Das senkt die Hürde, Hilfe konsequent und langfristig – im besten Fall also zwei bis fünf Jahre – in Anspruch zu nehmen. Aus selben Grund entwickeln wir auch Konzepte für die aufsuchende, therapeutische Arbeit.

 

Hilfe im Leben – Stadtmission Nürnberg