Was steckt hinter dem HaLT-Projekt, was tun Sie hier in Nürnberg?
RIEDEL: Zu unserer HaLT-Stelle am Suchthilfezentrum gehören fünf Mitarbeiterinnen und ich als Koordinatorin. Wir besuchen jedes Wochenende in drei Nürnberger Kliniken minderjährige Jugendliche, die mit einer Alkoholvergiftung eingeliefert wurden und reden über das, was passiert ist – vorausgesetzt, die Jugendlichen sind bereit, mit uns zu sprechen. Bei den unter 14-Jährigen müssen auch die Eltern dem Gespräch zustimmen. Wir erreichen so etwa 1/3 aller eingelieferten Jugendlichen in Nürnberg, also etwa 100 Mädchen und Jungen pro Jahr. Das ist eine sehr gute Quote, die vor allem aus der sehr engen Zusammenarbeit mit dem Klinikum Nürnberg-Süd , dem Klinikum Nürnberg-Nord und der Cnopfschen Kinderklinik resultier
Wie laufen Ihre Gespräche mit den Mädchen und Jungen ab?
RIEDEL: Die allermeisten jungen Leute sind froh und dankbar, dass sich jemand neutrales Zeit nimmt und die Ereignisse in Ruhe mit ihnen bespricht. Die Jugendlichen wollen reden. Oft sind sie ja selbst verunsichert und müssen erst einmal ordnen, was am Vorabend passiert ist. Wenn wir die Jugendlichen in der Klinik besuchen, führen wir nie Gespräche mit dem erhobenen Zeigefinger. Im Gegenteil: Uns geht es darum, den Jugendlichen zu vermitteln, dass es vollkommen okay ist, auch einmal etwas zu trinken. Aber jeder muss aufpassen wie viel und wie. Die jungen Leute sollen einen für sie guten, unschädlichen Umgang mit Alkohol finden, weil sie ihr ganzes Leben damit konfrontiert sein werden. Moralpredigten oder Taburegeln helfen da nic
Warum greifen Jugendliche zum Alkohol und warum trinken sie exzessiv?
RIEDEL: Das Alkoholtrinken, auch das exzessive Trinken, ist ein Stück weit Normalität des Erwachsenwerdens. Da geht es ums Grenzen testen, ums Verbotene und darum, sich erwachsen zu fühlen – aber die Fähigkeit und die Erfahrungen zur Selbsteinschätzung fehlen eben noch. So liegen dann Ausprobieren und Exzess nah beieinander. Unsere Erfahrung ist, dass sich die wenigsten Jugendlichen bewusst Be
Hat sich bei den Jugendlichen im Vergleich zum Beginn des Projektes vor zehn Jahren etwas verändert?
RIEDEL: Jugendliche haben schon immer getrunken und sich dabei auch schon immer überschätzt. Heute, vor zehn Jahren und weit früher. Das ist auch ganz unabhängig von Elternhaus, Geschlecht, Schule oder sozialer Schicht. Insgesamt scheinen mehr Präventionsangebote aber auch ihre Wirkung zu zeigen: Ich erlebe Jugendliche heute nicht unbedingt risikoscheuer aber doch sensibilisierter für die Alkoholproblematik als noch vor einigen Jahren. Das sogenannte Koma-Trinken, das vor zehn Jahren noch in aller Munde war, verschiebt sich in etwas höhere Altersklassen. Ich treffe auch immer wieder junge Leute um die 20, die noch nie Alkohol getrunken hab
Das ist eine positive Bilanz, wo liegen die Schattenseiten?
RIEDEL: Was aus meiner Sicht für die Jugendlichen zunimmt ist der Leistungsdruck, das Gefühl, ständig Funktionieren und sich immer und überall gut darstellen zu müssen. Wir haben seit 2014/2015 zunehmend Jugendliche, die mit 15, 16 Jahren schon von Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen betroffen sind. Gerade bei ihnen ist das Risiko für einen problematischen Suchtmittelkonsum höher. Nämlich dann, wenn sie zum Alkohol greifen, um ihre emotionalen und psychischen Krisen auszuhalten oder zu betäuben. Das alarmiert natürlich.
Noch ein Wort zu den Eltern – wie nehmen diese das HaLT-Projekt wahr?
RIEDEL: Über ein Gesprächsangebot sind einige Eltern sehr dankbar da sie in dieser Situation meist aufgeregt, in Sorge oder auch wütend und hilflos sind. Ansonsten erleben wir die Mütter und Väter leider oft sehr zurückhaltend oder reserviert. Als Verantwortliche haben sie häufig die Befürchtung, als schlechte Eltern wahrgenommen zu werden oder sie haben Angst, dass familiäre Probleme ans Licht kommen. Wieder anderen ist es auch egal, was da bei ihren Kindern passiert.
Was raten Sie demgegenüber Eltern, die bei dem Thema bewusst nach einem guten Umgang mit ihren pubertierenden Kindern suchen?
RIEDEL: Ganz wichtig ist Offenheit. Sprechen Sie über den Alkoholkonsum und mögliche Risiken. Spätestens wenn die Kinder die ersten Allein-Treffen mit Freunden haben und anfangen, Partys zu besuchen, sollte das Thema auf dem Tisch sein. Mit Offenheit meine ich aber auch das Zuhören und die Bereitschaft, anzuhören, was Sohn oder Tochter zu sagen haben. Seien Sie kooperativ, sprechen sie über ein altersgerechtes Limit und machen sie Angebote, wie zum Beispiel: »Egal, wie deine Lage ist, ruf mich an, ich hole dich ab.« Kinder sollten möglichst keine Angst haben, sich ihren Eltern zu öffnen. Und wenn der elterliche Zugang zu den Jugendlichen gerade schwierig ist, rate ich immer dazu, eine andere vertraute, erwachsene Bezugsperson einzubeziehen, beispielsweise den Patenonkel oder die Betreuerin im Jugendtreff.
Was wünschen Sie sich für Ihre Arbeit und die davon betroffenen Jugendlichen?
RIEDEL: Ich wünsche mir, dass das HaLT-Projekt aus seinem Projektstatus heraus findet und ein eigenständiger Baustein im Suchthilfesystem wird. Neben diesem Angebot brauchen wir auch weitere Hilfen im ambulanten und stationären Suchthilfesystem für Jugendliche unter 18 Jahren.
Das HaLT-Projekt bayern- und bundesweit
Das HaLT-Projekt (Hart am LimiT) ist ein kommunales Alkoholpräventionsprogramm für Kinder und Jugendliche, das 2003/2004 als Bundesmodellprojekt an elf Standorten in Deutschland an den Start ging. Ziel ist es, minderjährige Heranwachsende und Erziehungsverantwortliche für den Alkoholkonsum und dessen Risiken zu sensibilisieren sowie auf die Einhaltung der Jugendschutzgesetze hinzuwirken.
Das Projekt fußt dabei auf zwei Säulen: Im »reaktiven Programm« betreuen Fachleute Jugendliche, die mit Alkoholvergiftungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden und beraten auch deren Angehörige.
Im »proaktiven Programm« versuchen Fachleute mit Schulungen, Workshops und öffentlichkeitswirksamen Aktionen den alkoholspezifischen Jugendschutz zu stärken.
In Bayern hat das HaLT-Projekt inzwischen 45 Standorte. Die zentrale Koordination verantwortet die Bayerische Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen.