»Ich bin eingegangen im Knast, wie eine Pflanze am verkehrten Platz«, sagt Jürgen Bauer (66). Fast vier Jahre hat er im Gefängnis in Amberg gesessen, bis er im November 2018 vorzeitig entlassen wurde. Grund: Eine Sammlung kleinerer Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und schließlich eine Körperverletzung mit Todesfolge, die Bauer mit Notwehr begründet. Doch der 66-Jährige ist weder ein Schläger noch ein sogenannter Drehtür-Häftling, dessen Biografie immer wieder von Haftstrafen geprägt ist. Fast jeder zweite Strafentlassene landet irgendwann wieder hinter Gittern. Für Jürgen Bauer dagegen wäre das eine Katastrophe: »Wenn sie mich jetzt nochmal einkasteln wollten, würde ich mich umbringen. Das ist die Hölle.«
Resozialisierung beginnt hinter Gittern
Knast ist für den Rentner keine Option mehr. Sein Wille, jetzt ein ruhiges, straffreies Leben zu führen, umso größer. »Beste Voraussetzungen« seien das, um draußen wieder Fuß zu fassen, meint Kay Putsche, der seit 2018 den Arbeitskreis Resozialisierung, kurz AK Reso, leitet. Von der Arbeit des Arbeitskreises erfuhr auch Jürgen Bauer während seiner Zeit im Strafvollzug. In einem Brief bat er um Unterstützung. Denn: »Ich wollte auf keinen Fall rauskommen und obdachlos sein.« In dieser Hinsicht sei Jürgen Bauer ein klassischer Klient, meint der Sozialpädagoge Kay Putsche: »Die Aussicht auf eine Wohnung ist für viele Hauptmotivation vor ihrer Entlassung Kontakt zu uns aufzunehmen.« 33 kleine Apartments hat der AK Reso in Nürnberg angemietet und möbliert. Ehemalige Häftlinge leben dort für eine Übergangszeit und werden im Alltag betreut. Mitarbeitende der Resozialisierungseinrichtung unterstützen sie dann dabei, in Job oder Ausbildung zurückzufinden, ihre Behördenangelegenheiten zu regeln und sich wieder ein soziales, stabilisierendes Netzwerk »draußen« aufzubauen – allesamt Aspekte, die verhindern sollen, dass Klienten*innen erneut Straftaten begehen oder langfristig als Kriminelle gebrandmarkt und ausgegrenzt bleiben. Andererseits, erzählt Putsche, ist gerade das »Betreut-werden« für einige potentielle Klienten ein No-Go. »Die Sehnsucht nach Freiheit und Eigenständigkeit ist nach dem Knast riesengroß. Zu wissen, da kommt dann immer jemand zu mir, stellt Fragen oder formuliert Bedingungen, was ich so zu erledigen habe, verstehen manche als Freiheitsbeschneidung und scheuen sich deshalb, unsere Hilfe zu nutzen«, erklärt Putsche.
Familien erleichtern den Neustart
Jürgen Bauer erinnert sich noch genau an den grauen Herbsttag seiner Entlassung aus der JVA in Amberg: »Ich stand dann mit zwei großen Taschen und dem Entlassungsgeld vorm Gefängnistor. Da hab ich nicht lang rumgetan und mir ein Taxi zum AK Reso genommen. Ich wusste, die warten da auf mich.« Auch anderen geht es so wie Jürgen Bauer. »Nach dem Knast ist niemand mehr da.« Dagegen sind die, die nach ihrer Haftzeit von Partner*in, Kindern oder verlässlichen Freunden erwartet werden, im Vorteil. »Wir wissen, dass das Rückfallrisiko von straffällig gewordene Menschen, die noch in Familien verankert sind, viel niedriger ist, als bei Alleinstehenden«, erklärt Kay Putsche. Mit seinen jährlichen Familienseminaren und Partnergruppen in Haft, will der Arbeitskreis Resozialisierung genau diesen Hebel nutzen: Gefangene, meist Familienväter, bleiben durch diese Angebote mit ihren Partnerinnen und Kindern im Austausch und werden von Sozialpädagogen*innen auf das gemeinsame Leben nach der Haft vorbereitet. Die bayerischen Familienseminare, eine Art betreute Sommerfreizeiten für Häftlinge und ihre Familien, gibt es schon seit 42 Jahren. Die in Nordbayern stattfindenden Seminare richtet der AK Reso seit 22 Jahren aus.
Eine verlässliche Familie hat Jürgen Bauer nicht mehr. Seine Scheidung liegt lange zurück, die beiden Söhne, 36 und 35 Jahre alt, haben kaum mehr Kontakt zu ihm. »Da ist niemand zu dem ich hingehen könnte«, meint der 66-Jährige und lächelt: »Es war ja auch mein Leben lang so, dass ich derjenige war, zu dem die Leute kommen. Die Lokomotive irgendwie.« Was Bauer damit meint, wird klar, wenn er aus seinem Leben erzählt. Unbeständig und freiheitsliebend hört sich das an: Mit 14 brach Bauer seine erste Lehre als Automechaniker ab, holte erst die mittlere Reife und dann das Fachabitur nach. Später studierte er ein paar Semester Soziale Arbeit und wechselte schließlich ins Lehramtsstudium. »Ich war in allen Fächern saugut, auch in der Schule«, meint Bauer, aber auch »ziemlich revolutionär«. Im Lehrerberuf habe er sich letztlich nicht wohlgefühlt. »Ich sah aus wie ein Hippie, der nicht reinpasst zwischen die ganzen Schulräte mit Anzug und Tasche.« Also schlängelt sich Bauer mit Musik, Kunsthandwerk und allen möglichen Jobs durchs Leben. Auch in Südfrankreich lässt er sich zwölf Jahre lang nieder. Zurück in Mittelfranken verdient er sich sein Geld als Landschaftsgärtner, Pflasterer und Klempner. »Ich habe keinen dieser Berufe gelernt, mich aber reingefuchst wie ein Profi.«
»Niemals zurück in die muffige Zelle«
Ein Jahr ist Bauers Haft nun her. »Ich habe bis jetzt gebraucht, um überhaupt gesundheitlich wieder auf die Beine zu kommen.« Das Gefängnis habe ihn krank gemacht. Schweres Asthma, Krämpfe am ganzen Körper und häufige Panikattacken hätten ihn ausgezehrt in seiner Zelle. Durch den Arbeitskreis Resozialisierung hat er jetzt wieder Tritt gefunden. Er schaue sich bereits nach einer eigenen Bleibe in der Stadt um. Leicht wird das nicht, das weiß er. Mit seinem Betreuer im Rücken aber fühle er sich gut aufgestellt.
Bauer ist einer von etwa 60 Klienten, die der AK Reso im Betreuten Wohnen unterstützt. Meistens laufe es nicht so reibungslos, wie bei dem 66-Jährigen. Suchtprobleme und massive Schulden erschweren bei vielen den Resozialisierungsprozess. Auch unzuverlässig und aggressiv seien viele Klienten – »nicht überraschend«, meint Reso-Leiter Kay Putsche, denn »Gewalterfahrungen, unstete Beziehungen und ständige Mangel- und Ausgrenzungserfahrungen« hätten das Leben vieler Ex-Häftlinge geprägt. Putsche, sein 9-köpfiges Team und mehr als 30 Ehrenamtliche versuchen diesen Lebenserfahrungen bessere entgegen zu setzen – im Jugendarrest, in den JVAs Nordbayern und in wiedergewonnener Freiheit.
Hintergrund
Der Arbeitskreis Resozialisierung wurde 1969 von zehn ehrenamtlich Engagierten in Nürnberg gegründet. Seit 1976 ist er der Stadtmission Nürnberg angegliedert. 1980 wurde erstmals ein hauptamtlicher Mitarbeiter eingestellt, bis 2019 wuchs das Kollegium auf zehn Hauptamtliche an. Finanziert wird die Arbeit des Arbeitskreises u.a. durch zugewiesene Geldauflagen der Gerichte, das Bayerische Justizministerium und das Sozialministerium sowie Zuschüsse von Landeskirche, Kommune und gemeinnützigen Vereinen.