Energiepreise und Armut: »Die Energienot armer Menschen wird seit Jahren in Kauf genommen«

Die Energie-Preise seien nicht erst seit den jüngsten Preissteigerungen ein Existenzproblem für einkommensarme Menschen, sagt Christine Mürau von der Stadtmission. Schon seit 2008 würden die Regelsätze aus der Grundsicherung selten tatsächliche Energiekosten decken. Sie macht auch Vorschläge, wie es anders und vor allem gerechter ginge - ein Interview.

Frau Mürau, wie bewerten Sie, wenn die Vorhaben der neuen Bundesregierung zur ökologischen Transformation u.a. mit Blick auf deutlich steigende Energiepreise als »unsozial« angefochten werden?

Mürau: Um die anstehenden Klimaschutzmaßnahmen angehen zu können, ist eine nachhaltige Entwicklung natürlich von großer Bedeutung. In unseren Beratungssettings wird aber auch sichtbar, dass die alltäglichen Nöte einkommensarmer Menschen in der Umsetzung kaum ernsthaft berücksichtigt werden. Das ist aber kein spezifisches Versagen der neuen Bundesregierung. Wir wissen seit Jahren, dass die Energiekosten für einen erheblichen Teil von Menschen mit niedrigen oder gar keinem eigenen Einkommen ein massives Problem sind, das in weiten Teilen von Öffentlichkeit und Politik kaum interessiert. Mindestens seit den Hartz-Reformen ist das schon ein strukturell verankertes, massenhaftes Problem.

Was heißt das konkret, ein strukturell verankertes Problem?

Am sichtbarsten wird das natürlich, wenn man sich anschaut, was unser Sozialstaat in der Grundsicherung für Menschen mit sehr niedrigen Einkommen vorsieht. 38,07 EUR pro Monat und Singlehaushalt sind da im Regelsatz veranschlagt, von denen sowohl die Energierechnungen als auch die Instandhaltungskosten der Wohnung finanziert werden sollen. Der reale Bundesdurchschnitt für den monatlichen Energieverbrauch liegt im Moment aber bei etwa 48 EUR! Hinzu kommt, dass arme Menschen oft sogar einen überdurchschnittlichen Energieverbrauch haben, weil sie in schlecht isolierten Wohnungen leben und veraltete, kaum energieeffiziente Geräte zuhause haben.

Warum hat dieses, offenbar bekannte Problem schon so lange keine politischen Folgen oder Lösungen mobilisiert?

Mürau: Die Betroffenen haben oft selbst den Glauben verloren, dass sie mit ihren Nöten von politischen Verantwortungsträgern gesehen werden oder Hilfe erwarten können. Sie bringen sich also selbst kaum politisch ein. Und auch der Druck der Wohlfahrtsträger hat bisher leider wenig bewirkt. Nach der jüngsten Erhöhung liegt der Regelsatz nach SGB II aktuell bei 449 EUR für Erwachsene. Wir als Diakonie halten 600 EUR für notwendig und angemessen. Mit ihrem Mangel am Lebensnotwendigen, auch mit dem Energiekostenproblem bleiben die Betroffenen bisher also meist allein. Sie sparen sich das vom Mund ab, versuchen dann beim ebenso knappen Lebensmittelbudget zu sparen oder sich Geld zu leihen. Andere versuchen ihre Nachzahlungsrechnungen in Raten abzustottern, geraten dabei aber oft noch tiefer in die Schuldenfalle. Denn schon im Jahr darauf steht ja die nächste dicke Jahresrechnung an. Das ist ein Teufelskreis, bis letztlich die Stromsperre kommt.
Über wie viele Betroffene reden wir in etwa?

Mürau: Für die KASA kann ich sagen: Etwa 15% unserer Ratsuchenden kommen, weil sie in Energie-Not stecken. Das ist aber nur die Spitze des Eisberges, weil viele Betroffene ja erst dann Beratung suchen, wenn sie sich gar nicht mehr selbst zu helfen wissen. Und das ist seit Jahren so, nicht erst seit den jüngsten Preissprüngen letzten Herbst.

Wie können Sie in der KASA Menschen dann helfen?

Mürau: Wir versuchen meist an mehreren Stellen mit den Betroffenen nach Lösungen zu suchen. Zum einen vermitteln wir häufig die Energieberater der Stadt Nürnberg, die die Menschen zuhause besuchen und schauen, wo sich Energie sparen lässt. Zum anderen – das ist der deutlich größere Teil – versuchen wir mit ihnen Kulanzregelungen bei den Energieversorgern zu erwirken. Manchmal können wir auch Stiftungen oder Spendengelder vermitteln, die den Betroffenen mit finanziellen Zuschüssen z.B. bei ihrer Nachzahlung helfen. Aber das sind alles nur Krücken. Für eine nachhaltige Problembekämpfung braucht es eigentlich viel mehr.

Wie sähe das aus, eine nachhaltige Bekämpfung oder sozialgerechte Lösung des Energieproblems für einkommensarme Menschen?

Mürau: Ganz klar: Der vorgesehene Regelsatz in der Grundsicherung oder im Bürgergeld, wie es künftig wohl heißen wird, muss sich endlich an der Realität orientieren. Schon 2008 galten über 90% der von Grundsicherung abhängigen Haushalte als »energiearm« und seitdem sind die Stromkosten in Deutschland nochmal um 47% gestiegen.
Wir plädieren auch dafür, dass die realistischen Energiekosten eines Haushaltes, ebenso wie etwa Miet- und Heizkosten, direkt von den jeweiligen Ämtern übernommen werden – als garantiertes Existenzminimum.
Auch hier in der Kommune könnte man etwas tun: Ich denke da an eine Art Sozial-Stromtarif für alle Haushalte mit sehr niedrigen Einkommen, die der kommunale Stromversorger anbieten könnte. Ähnlich wie das VGN-Sozialticket für den Öffentlichen Nahverkehr.

 

 

 

 

 

Hilfe im Leben – Stadtmission Nürnberg