NÜRNBERG. Farzad H. zog 2015 mit seiner Familie aus dem Irak nach Nürnberg. Plötzlich musste er – mit nicht mal zwanzig Jahren – fast alles für seine Familie regeln. Denn er sprach mit Abstand das beste Deutsch. Andererseits konnten ihm seine Eltern und Verwandten bei der eigenen Berufs- und Ausbildungsplanung nicht unterstützen, da sich niemand mit dem hiesigen Schul- und Ausbildungssystem auskannte. Der Jugendmigrationsdienst (JMD) der Stadtmission konnte in dieser Situation viel für Farzad abfedern. Das Team hatte Antworten auf seine Fragen und begleitete ihn auf seiner Schullaufbahn. Farzad bereitet sich jetzt, neben seinem Teilzeitjob bei einem Discounter, auf seinen Abschluss an der Abendrealschule vor.
Keine pauschalen Lösungen
Eine individuelle Einzelbetreuung ist die beste Voraussetzung für eine gelingende Integrationsarbeit, erklärten Fachleute der Nürnberger Migrationsberatungen am gestrigen, bundesweiten Aktionstag der Migrationsdienste. Denn bei jedem Zugewanderten drücke der Schuh an anderer Stelle. Das »selbstständige Laufen lernen« könne sehr unterschiedlich ausfallen, so Brigitte Fartaj, die die Integrationsberatung der Stadtmission leitet. Einig sind sich die Nürnberger Migrationsfachleute der Freien Wohlfahrt, dass in den wenigsten Fällen drei Jahre ausreichten, um wirklich in Deutschland anzukommen. Aber auch, dass mehr Beratungspersonal zwangsläufig größere Integrationserfolge nach sich zögen. Der Bedarf an Integrationshilfen in Nürnberg sei nicht gedeckt, gab Brigitte Fartaj weiter zu bedenken. So gäbe es, verteilt auf verschiedene Träger, lediglich 38 Migrationsberater*innen in Nürnberg. In den letzten Jahren aber sei allein der Anteil von europäischen Migranten*innen um 29 % gestiegen. »Unsere Stadt wird kulturell immer diverser. Wir müssen dafür sorgen, dass wir nicht in undurchlässige Milieus zerfallen, sondern jeder die Chance hat, sich hier frei zu entwickeln und einzubringen - über Milieugrenzen hinweg«, appellierte Fartaj und schloss ihre Forderung an die Politik an: »Wir brauchen eine bessere Finanzierung unserer Migrationsdienste. Wir Träger können unser Angebot nicht ausbauen, weil unser Eigenanteil von bis zu 20% pro Personalstelle für uns nicht stemmbar ist.« Der Bund müsse für eine bessere, auskömmliche Finanzierung sorgen, waren sich Fartaj und ihre Kollegen*innen von AWO, Caritas und BRK einig.
Fehler der 70er nicht wiederholen
Bundestagsabgeordnete Gabriela Heinrich (SPD) versprach im Rahmen der Gespräche zum Aktionstag, diese Forderungen nach Berlin weiterzutragen. Einwanderungsgesetz und Arbeitsduldung seien aktuell in der Diskussion, die genauso wichtige individuelle Beratung falle da schnell hinten runter, so die Politikerin. »Mir ist wichtig, dass wir nicht die Fehler aus der Arbeitsmigration der 70er wiederholen. Es geht nicht nur um Spracherwerb, auch wenn dieser wichtig ist. Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, da müssen wir auch zukünftig noch einiges schaffen«, so Heinrich.
In Nürnberg blicken die Wohlfahrtsverbände Arbeiterwohlfahrt, Bayrisches Rotes Kreuz, Caritas und Stadtmission auf rund 60 Jahre Erfahrung in der Beratung von Menschen mit Migrationshintergrund zurück. Gegründet wurden die Beratungsstellen für osteuropäische Spätaussiedler und Gastarbeiter aus Südeuropa. Dies ist auch heute noch ein großer Teil der Klientel, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Der Anteil an EU-Bürger in den Beratungsstellen beträgt mehr als 30 %, Tendenz steigend. Sie kommen aus Ländern mit schwächerer Wirtschaftskraft wie Bulgarien, Rumänien und Polen aber auch Griechenland und Spanien. Die anderen Ratsuchenden setzen sich aus Nicht-EU-Bürgern mit Aufenthaltsstatus, aus anerkannten Flüchtlingen sowie den Spätaussiedlern aus den GUS-Staaten zusammen.