Seit zwei Jahrzehnten begleiten auch Suchtberater der Stadtmission Nürnberg Häftlinge der regionalen JVAs. Waren die Sozialpädagogen in den ersten Jahren noch Berater auf Besuch, haben sie seit 2012 ihren festen Arbeitsplatz hinter Gittern. Was ihre Arbeit im Knast ausmacht, beschreibt die Suchtberaterin und Sozialpädagogin Cristina Doliana (28).
NÜRNBERG. Trocken oder clean werden – das schaffen nur Abhängige, die aus freien Stücken mit ihrer Sucht brechen wollen. Wer im Gefängnis eingesperrt sei, der könne diese Entscheidung wohl kaum auf freiwilliger Basis treffen, eine Beratung in Haft deshalb aussichtslos. So argumentierten in den 80er und 90er Jahren noch enorm viele Kritiker. Seitdem hat sich viel geändert.
Was bringt die Suchtberatung in Haft?
Die externen Suchtberater der Stadtmission wehrten sich seit jeher gegen dieses Totschlag-Argument: »Auch draußen ist es der Leidensdruck, der Abhängige zum Ausstieg bewegt. Erst ist der Führerschein weg, dann der Arbeitsplatz und irgendwann die Familie. Der Freiheitsverlust ist dann eine der schlimmsten Suchtkonsequenzen, die Menschen erfahren können – eine Chance und oft ein Wendepunkt für viele«, sagt Cristina Doliana, die seit zwei Jahren mit Abhängigen in der JVA Nürnberg arbeitet. Doliana meint aber auch: »Die Sucht im Knast in den Griff zu bekommen, ist in etwa so aussichtsreich wie im Trocknen das Schwimmen zu lernen.« Denn die entscheidenden Krisen und Versuchungen warten in der Regel draußen. Andererseits würden etliche ihrer Klienten ohne den Zwangskontext Knast wohl nie einen ersten Versuch im Trockenen wagen: So beginnen die Insassen, 90 % davon Männer, sich mit Cristina Doliana und ihren Kolleginnen, erstmals mit dem eigenen Suchtverhalten, mit den Auslösern und Rückfallrisiken auseinanderzusetzen. Schnell werden dann hehre Ziele gesteckt: Die allermeisten ihrer Klienten arbeiteten auf ein abstinentes Leben hin – ohne neue Straftaten. »Wir versuchen mit den Männern in der Beratung zunächst kurzfristigere, realistische Zielmarken zu suchen. Denn draußen müssen es die Betroffenen ja nicht nur schaffen, den Konsum zu vermeiden, sie müssen das Leben packen, es ertragen lernen – ohne sich im Rausch zu betäuben«, erklärt die Sozialpädagogin.
Ein normales, strukturiertes Leben kennen viele der Häftlinge gar nicht. Als Kinder sind sie häufig selbst mit abhängigen Eltern aufgewachsen, haben Gewalterfahrungen gemacht, viele Heimaufenthalte hinter sich. In der Haft gelte es den Anfang für ein suchtfreies Leben in Freiheit zu machen – die Bereitschaft für Veränderung zu fördern, auf langfristige Therapien vorzubereiten, die Betroffenen an das Suchthilfesystem draußen anzubinden, so Doliana.
Suchtberatung und Seelsorge
Mitunter hilft es den Betroffenen, in den sicheren Strukturen der Haft eingesperrt zu sein. Der Stress, den Alltag selbstverantwortlich bestreiten zu müssen, entfällt. Man ist auf sich selbst zurückgeworfen. Und genau dann sind Cristina Doliana von der Stadtmission und ihre Kolleginnen da – eine Chance. »Suchtarbeit muss dort stattfinden, wo die Abhängigen erreichbar sind« – mit diesem Credo haben sich die Befürworter der Externen Suchtberatung bereits in den 90er Jahren gegen Kritiker durchgesetzt.
Für die Gefängnisinsassen haben die externen Suchtberaterinnen einen ähnlichen Status wie Seelsorger: Als Externe sind sie weitgehend unabhängig von den JVA-Strukturen, sie stehen unter Schweigepflicht und kennen dennoch das Lebensumfeld Knast sehr genau – spätestens seitdem sie 2012 selbst mit ihren Büros hinter Gittern sitzen. In der JVA läuft die Suchtarbeit mit den Betroffenen oft intensiver. »Wir holen jeden einzelnen zur Sitzung vor seiner Zelle, quasi zu Hause, ab und begleiten ihn nach jedem Gespräch wieder dorthin zurück. Und wir können als Vertrauenspersonen durch die Haftzeiten oft ein recht langes Stück Lebenszeit auf die Suchterkrankten einwirken«, erklärt Doliana.
Allerdings weiß das Team auch, was es den Frauen und Männern abverlangt, sich ihrer Beratung zu stellen: »Wir fordern sie auf, ihre Fassade abzulegen, sich auseinanderzusetzen mit ihren Lebenskrisen und wissen gleichzeitig, dass sie ihre schützende Fassade brauchen, um in dem sozialen Kontext der Haft zu überleben.« Nach einem aufwühlenden Gespräch sei es manchmal gut, dass die Berater ihre Klienten bis zum Zellentrakt zurückbegleiten könnten. »Das gemeinsame Laufen und die banaleren Gespräche auf dem Weg, helfen den Männern und Frauen sich zu erden, zurückzufinden in ihr Umfeld.« Beratungsstellen in Freiheit hätten diesen Bonus nicht, betont Doliana.
Gewalttätige Übergriffe hätten Doliana, ihre Kollegen und Kolleginnen in 20 Jahren übrigens nie erlebt.
6 000 gefangene Abhängige in 20 Jahren
Fast 6 000 Gefangene haben die Suchtberater und –beraterinnen der Stadtmission seit 1997 hinter Gittern begleitet. Vier hauptamtliche Kollegen betreuen heute die Justizvollzugsanstalten in Ansbach und Nürnberg mit der Außenstelle Lichtenau. Der freie und gemeinnützige Verein »mudra – Alternative Jugend- und Drogenhilfe Nürnberg e.V.« hat weitere sechs Mitarbeitende in den regionalen Haft- und Arrestanstalten im Einsatz.
Während das Stadtmissions-Team Ende der Neunziger Jahre noch schwerpunktmäßig Alkoholabhängige beriet, die Kollegen der mudra dagegen auf illegale Drogen spezialisiert waren, hat sich diese Unterteilung inzwischen weitgehend überholt. Zum einen liege das daran, dass auch oder gerade hinter Gittern immer mehr illegale Drogen konsumiert werden. Die Klientel hat sich dahingehend verändert. »Etwa 80 % der Gefangenen hatte bereits Kontakt mit Betäubungsmitteln – der Drogenmissbrauch hinter Gittern nimmt zu«, bilanziert auch Thomas Vogt, Leiter der JVA Nürnberg.
Die Abhängigkeit von illegalen Rauschmitteln und letztlich der Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz sei für viele überhaupt erst der Grund ihrer Inhaftierung, ergänzt Erica Metzner, Leiterin des Suchthilfezentrums und Verantwortliche für die Externe Suchtberatung der Stadtmission. Der Anteil derjenigen, die von illegalen Drogen abhängig sind und Hilfe suchen, sei in Haft deshalb viel höher als in den Beratungsstellen draußen. »Im Suchthilfezentrum ist bei etwa 70% der Beratungssuchenden Alkohol das Hauptproblem, in Haft gelte das nur für etwa 50%«, so Metzner.
Es sind aber nicht nur Alkohol- und Drogenprobleme, die die Frauen und Männer der Stadtmission in der JVA bearbeiten. Auch Medikamenten- und Spielsüchtige beraten die Sozialpädagogen.
Die Externe Suchtberatung in Bayern
Die Externe Suchtberatung in den Bayerischen Justizvollzugsanstalten ist 1997 aus dem Bundesmodellprojekt »Aufsuchende Sozialarbeit für betäubungsmittelabhängige Straftäter« (ASS) erwachsen. Sie wird heute vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit finanziert. Das Staatministerium für Justiz hat verschiedene Suchthilfeträger mit der Beratung in den bayerischen Haftanstalten beauftragt. Im Nürnberger Raum sind das die Stadtmission und der alternative Drogenhilfeverein »mudra«.
Im November wird die Koordinierungsstelle der bayerischen Suchthilfe (KBS) eine Festveranstaltung zum 20. Jubiläum der Externen Suchtberatung ausrichten.