Mehr Teilhabe für Menschen mit Behinderungen: Neue Fachstellen helfen generationenübergreifend

Mehr Selbstbestimmung bei der eigenen Lebensgestaltung, mehr Teilhabe am öffentlichen Leben: Die 2018 deutschlandweit und flächendeckend ins Leben gerufenen »ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungen« (EUTB) sollen die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen verbessern. Auch in Nürnberg sind zuletzt vier EUTBs an den Start gegangen. Gestern stellten sie ihre Arbeit der Öffentlichkeit vor.

NÜRNBERG.    Im 2016 verabschiedeten Bundesteilhabegesetz wurde die Einrichtung sogenannter »ergänzender, unabhängiger Teilhabeberatungen« (EUTBs) in der gesamten Bundesrepublik festgeschrieben. Allein in Bayern gibt es inzwischen 87 der neuen Hilfestellen, in denen sich von Behinderungen betroffene oder bedrohte Menschen jeden Alters kostenlos beraten lassen können. »Keiner muss bei uns einen Schwerbehindertenausweis vorlegen. Alle können kommen – auch ohne schon genau zu wissen, was sie in ihrer aktuellen Lebenslage brauchen«, erklärte gestern EUTB-Beraterin Carolin Sprenzel von der Stadtmission Nürnberg. Die Teams verstehen sich selbst als »Lotsen« und können Menschen helfen passende Reha-, Teilhabe- und Assistenzleistungen sowie Hilfsmittel zu organisieren, die sie im Alltag brauchen. Dabei arbeiten die EUTB-Berater*innen unabhängig von Kosten- und Leistungsträgern. Sie können deshalb umfassend zu allen möglichen Bedarfen Auskunft geben und Antragsverfahren bei verschiedensten Stellen begleiten. Wer bezahlt die Braille-Zeile für meinen PC? Wo finde ich persönliche Assistenz, die mich im Beruf begleitet? Ich will aus dem Wohnheim ausziehen, kann ich eine eigene Wohnung überhaupt finanzieren? Wir erwarten ein Kind mit Behinderung – welche Frühfördermöglichkeiten haben wir? Das Themenspektrum, das die EUTBs abdecken, ist enorm groß und genau darin unterscheiden sie sich von anderen Fach- und Servicestellen. »Zu uns können die Menschen unsortiert kommen. Wir helfen ihnen sich zu orientieren und zu klären, was sie selbst für ihr Leben wollen«, meint Sprenzel. Wer sich an eine der EUTBs in Nürnberg wende, könne sich darauf verlassen, dass sich »Zeit genommen wird«. Das gelte auch für Angehörige, Vereine oder Arbeitgeber*innen von Menschen mit Behinderungen.

Anders als bisherige Beratungsstellen

Ein Alleinstellungsmerkmal der EUTBs ist das Prinzip der »Peer-Beratung«. So arbeiten in allen Teams Menschen mit Handicaps, die neben ihrer Fachkompetenz auch persönliche Erfahrungen in die Beratung einbringen. Pädagogin und Peer-Beraterin Birgit Gheri von vincentro Mittelfranken hält das für einen »Glücksfall«. Die EUTBs schaffen so viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze für Menschen mit einer Behinderung, von denen es viel zu wenige gebe.

Auch Birgit Gheri sei nach ihrer Diagnose »Multiple Sklerose« am Arbeitsmarkt durchs Raster gefallen. Außerdem habe sie eine »Odyssee langer Krankenhaus- und Reha-Aufenthalte« sowie »aufwändige  Behördenverfahren« hinter sich gebracht. Als EUTB-Beraterin will sie Hilfesuchende emotional stärken. »Frauen und Männer mit Handicaps sind keine Defizitausgaben des Menschen«, im Gegenteil: Schon durch ihre Beeinträchtigung müssten sie einen solchen »Kampfeswillen und Ausdauer« entwickeln, von denen sich Gesunde viel abschauen könnten. »Keiner kann alles und niemand kann nichts«. Gheri hofft, dass sie mit ihrer Beratungs- und Lobbyarbeit auch gesellschaftlich wirken kann. Ein Handicap zu haben sei kein Sonderfall, sondern Normalität, die im öffentlichen Leben viel zu wenig berücksichtigt sei. Die Pädagogin geht davon aus, dass etwa 20 % der Bevölkerung mit einer Behinderung, chronischen Erkrankung oder psychischen Beeinträchtigung leben, die in vielen Fällen erst auf den dritten oder vierten Blick sichtbar werde.

Finanzierung und Perspektive der EUTBs

58 Millionen jährlich investiert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in den Betrieb von fast 600 EUTB-Stellen bundesweit. Einen Teil der Kosten müssen die jeweiligen Träger zuschießen. Zumindest bis 2022 ist diese Finanzierung gesichert. In Nürnberg tragen die Integral e.V., die Stadtmission Nürnberg, vincentro Mittelfranken gGmbH und der Gehörlosenverband Bayern die neuen Beratungsstellen an vier Standorten in der Stadt.

EUTB Südstadt: 
Ulmenstr. 24, 90443 Nürnberg 
T. (0911) 9 40 19-60 
info@teilhabe-nuernberg.de

EUTB Nordstadt: 
Krellerstr. 3, 90489 Nürnberg 
T. (0911) 3 76 54-261 oder -262 
eutb@stadtmission-nuernberg.de

EUTB Zentrum
Theatergasse 23, 90402 Nürnberg
T. (0911) 50712316
eutb@vincentro-mfr.de

EUTB Südwest-Stadt
Pommernstraße 1, 90451 Nürnberg 
info@lvby.de

Hilfe im Leben – Stadtmission Nürnberg