Verzweifelte »Lebensmüde«, die nicht wissen wohin. Leute, denen der Tod näher scheint, als ein Mensch zum Reden. Für sie wurde die erste deutsche TelefonSeelsorge vor 65 Jahren in Berlin gegründet. Auch die erste bayerische Stelle, die 1961 von der Stadtmission Nürnberg ins Leben gerufen wurde, sorgte sich vor allem um suizidgefährdete Menschen. Heuer feiert sie ihren 60. Geburtstag, vieles hat sich seither geändert.
Durchschnittlich sechs Gespräche täglich wurden in den Anfangsjahren in der Nürnberger Telefonseelsorge geführt. Heute sind es etwa 40 pro Tag aus einem Einzugsgebiet mit einer Million Menschen. 80 ehrenamtlich Engagierte stehen hinter der Nürnberger Kummer-Hotline, die 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr offen ist. Die langjährigste Mitarbeiterin besetzt bereits seit 39 Jahren das Krisentelefon in Nürnberg.
Von der »Lebensmüdenberatung« zur Seelsorge
Mit der Ausbreitung des Telefons in den Haushalten der Deutschen, wurden auch die Probleme, mit denen sich Menschen an das Sorgentelefon wendeten, vielfältiger. Ihren anonymen Zuhörern*innen am anderen Ende vertrauten sie Beziehungsprobleme, schwere Erkrankungen, Gewalt- und Missbrauchserfahrungen oder einfach ihre Einsamkeit an. Heute steht nur noch in 10% der Telefongespräche das Suizidthema ganz vorne, sagt die Pfarrerin Birgit Dier, die die TelefonSeelsorge bei der Stadtmission Nürnberg seit 2011 leitet. »Die Menschen wollen reden. Viele suchen einfach jemanden, der sie versteht und Anteil nimmt.«
Zuhören und Anteil nehmen – das klingt einfach, ist es aber oft nicht. Alle Ehrenamtlichen der Telefonseelsorge durchlaufen deswegen eine einjährige Ausbildung, bevor sie das erste Mal selbst den Hörer abnehmen. Dazu kommen monatlich Supervisionen und regelmäßige Fortbildungen, die sie für ihren Dienst wappnen. Dem zugrunde liegen bundesweit geltenden Ausbildungs- und Qualitätsstandards für die Seelsorge am Telefon, die seit den 70er Jahren sukzessive entwickelt und ausgebaut wurden.
Reden hilft immer
Eine gute Ausbildung ist das eine, »Interesse an Menschen« das andere, was alle Telefonseelsorger*innen unbedingt brauchten, meint Birgit Dier. »Wer diese Offenheit mitbringt, wer zuhören kann und sich einlässt auf andere, der ist geeignet.«
Der große Schatz der Ehrenamtlichen am Telefon sei ihre Vielfalt, meint die Pfarrerin. »Wir haben Studierende, Psycholog*innen in Rente oder Berufstätige, die neben ihrem Beruf noch eine andere sinnstiftende Aufgabe suchen. Die gucken alle unterschiedlich aufs Leben, auch auf Probleme.« Kein Telefongespräch laufe also nach Skript, sondern lebe von den Eigenheiten und Stärken der Gesprächspartner*innen auf beiden Seiten der Leitung. »Kein Ehrenamtlicher muss Angst haben, das er etwas Falsches sagt, den Anrufer womöglich noch tiefer in die Krise stürzt. Reden hilft fast immer.«
Geben und Nehmen
Das bestätigt auch Anett Ritter*. Die 47-Jährige gehört seit 2018 zum Nürnberger TelefonSeeslorge-Team. Drei bis vier Telefonschichten übernimmt sie im Monat – überdurchschnittlich viele. Ritter hatte gezielt nach einer Aufgabe gesucht, mit der sie anderen Menschen in Krisensituationen helfen kann. »Ich war selbst vor nicht allzu langer Zeit in einer Krise und hatte da so viel Hilfe, von Psychotherapeuten, aber auch anderen. Ich wollte das weitergeben.« Bei ihrem ersten Seelsorge-Gespräch habe sie gezittert vor Aufregung. Inzwischen ist ihre Sicherheit gewachsen. »Das Anonyme schafft Vertrauen bei den Anrufern. Und ich beurteile nicht, ich begleite ein Stück. Ich bekomme da ganz viel zurück.«
Gleichzeitig sagt sie: »Es ist ein einsames Ehrenamt«. Deshalb seien ihr auch die Gruppen-Supervisionen mit den anderen Telefonseelsorger*innen einmal im Monat so wichtig. »Da entsteht das Gemeinschaftsgefühl, da tauschen wir uns aus, da kann mal jemand anderes drauf gucken, auf das, was mir nachgeht aus einer Schicht.«
2021 – TelefonSeelsorge mehr denn je gebraucht
Die Corona-Krise hat natürlich auch auf die TelefonSeelsorge gewirkt. Die Zahl der eingehenden Anrufe stieg schon zu Beginn der Pandemie um 25%. Häufig ist die Leitung belegt. Die TelefonSeelsorger*innen kompensierten dabei auch Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen, die seit langem allenfalls eingeschränkt arbeiten können, sagt Leiterin Birgit Dier. Viel mehr Menschen kämpften mit der Einsamkeit. Dazu kommen Jobängste, Beziehungskonflikte oder Sorgen um Kinder, weil der Druck zuhause ständig steige. Die Ehrenamtliche Anett Ritter hat aber auch wahrgenommen, dass »die Hemmschwelle für einen Anruf bei der Telefonseelsorge« gesunken sei. »Die Menschen nehmen sich nicht mehr selbst als traurigen Einzelfall wahr. Es sind ja alle in einer Krise und man liest jeden Tag in den Medien von den Corona-Problemen anderer Leute.« Sie freut sich, dass deshalb mehr Menschen den Mut haben, sich selbst Hilfe zu holen und zu öffnen.
Spätestens Corona hat gezeigt: »Wenn es die TelefonSeelsorge nicht gäbe, müsste man sie erfinden«, schmunzelt auch Birgit Dier und ergänzt: »Ich bin einfach begeistert, dass es immer noch so funktioniert. Das sind all die tollen Ehrenamtlichen, die das wuppen. Das macht mich stolz.«