NÜRNBERG. Etwa 10 % der Bewohner*innen in Pflegeeinrichtungen sind alkoholsüchtig, mehr als 35 % sind von Medikamenten (Benzodiazepine) abhängig, schätzen Experten*innen. Trotz dieser hohen Zahl betroffener Senioren*innen gab es in der Metropolregion lange keine speziellen Hilfen für sie und die sorgenden Angehörigen und Pflegefachkräfte. 2017 hat das Suchthilfezentrum der Stadtmission deshalb mit einem »Strukturaufbau« für die Region um Nürnberg begonnen. Die Sozialpädagogin Beate Schwarz leitet das Modellprojekt, das unter dem Titel »Hilfe für suchtgefährdete alte Menschen« (SAM), etabliert wurde. Das Bayrische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege förderte die Arbeit mit 155.000 EUR und auch die Stadt Nürnberg finanzierte das Projekt über ihre Heinrich-Gröschel-Stiftung mit weiteren 24.000 EUR. Bayerns Gesundheits- und Pflegeministerin Melanie Huml betonte: "Ihre Projektidee ist ein hervorragendes Beispiel, wie die Rahmenbedingungen in der Pflege konkret verbessert werden können. Sie haben sich damit einem sensiblen Thema gestellt, von dem auch andere Akteure in der Pflege bayernweit profitieren können."
Pflege und Suchthilfe zusammenbringen
Vier stationäre wie auch ambulante Einrichtungen der Altenhilfe haben im SAM-Projekt über zwei Jahre Gesprächs- und Schulungsprogramme durchlaufen, darunter das Pflegezentrum Bischofsgrün, das Adolf-Hamburger-Heim, das Pflegezentrum Rupprechtstegen und die Freie Sozialstation "Palliativ Care Team". Mitarbeitende haben dabei sowohl Souveränität als auch Kompetenz im Umgang mit suchtgefährdeten alten Menschen gewonnen. Sie sind sensibilisiert für suchtbedingte Probleme ihrer Bewohner*innen, z.B. häufige Stürze oder starke Stimmungsschwankungen bis hin zu Aggressionen. Durch die Arbeit mit dem SHZ haben die professionellen Teams in ihren Einrichtungen eine Gesprächskultur entwickelt, in der sie Suchtprobleme und -risiken ihrer Klienten*innen angemessen thematisieren und nach individuellen Hilfen suchen können. Die Fachkräfte haben dabei gelernt, die Betroffenen selbst, als auch deren Angehörige oder sonstige Fachdienste in einen lösungsorientierten Austausch zu bringen.
In der Mitarbeitendenschaft des Adolf-Hamburger-Heims in Nürnberg habe man sich während der Projektarbeit u.a. sehr intensiv mit den kulturell geprägten Haltungen der Kollegen*innen auseinandergesetzt, berichtet Heimleiter Wolfgang Brockhaus: »Ein Trinker ist für einen in Franken sozialisierten Mitarbeiter etwas anderes als für einen osteuropäischen oder südeuropäischen Kollegen zum Beispiel. Die Frage ,Krankheit oder Charakterschwäche?‘ wird individuell und kulturell ganz unterschiedlich verhandelt.«
Uwe Schreiner, Leiter der Freien Sozialstation »Palliativ Care Team« hat es geschafft, einen neuen Melde- und Abstimmungsprozess in seinem Dienst zu etablieren. Dieser greift, wenn die Kollegen*innen »draußen« suchttypische Auffälligkeiten beobachten oder aggressiv angegangen werden. »Wir handeln nicht mehr aus dem Bauch raus, sondern abgestimmt nach klaren Leitlinien«, erklärt Schreiner und bilanziert gleichzeitig: »Wir arbeiten jetzt weniger Zeit umsonst, weil falsch reagiert wird.«
Über 1 300 Menschen persönlich sensibilisiert
Aus dem SAM-Projekt ist auch eine fachlich geleitete Selbsthilfegruppe für Angehörige suchtkranker Senioren*innen hervor gegangen, die sich zweiwöchentlich im Suchthilfezentrum trifft. »Da sind bei jedem Treffen Tränen geflossen«, erzählt Projektleiterin Beate Schwarz. Die Teilnehmenden hätten sich einfach entlasten können. Doch nicht nur in dieser Gruppe, auch in Seniorennetzwerken, kommunalen Arbeitskreisen und einschlägigen Gremien hat Beate Schwarz viel Infoarbeit betrieben. 1 339 Menschen hat sie so erreicht. Es galt das Thema »Sucht im Seniorenalter« zu enttabuisieren und Menschen, die davon betroffen sind, fachlich und emotional den Rücken zu stärken. »Ich wünsche mir, dass die Arbeit der letzten drei Jahre jetzt in die Fläche geht. Wir haben lediglich einen ersten Schritt geschafft«, meint Schwarz.
Seniorenspezifische Suchthilfe wird Regelangebot im SHZ
Den Bezirk Mittelfranken hat die Projektarbeit des Suchthilfezentrums und deren wissenschaftlich belegten Erfolge überzeugt. Er finanziert deshalb eine sozialpädagogische Fachkraft im Suchthilfezentrum der Stadtmission, die sich künftig direkt um ältere Suchtmittelabhängige und deren Angehörige kümmern kann. Das Suchthilfezentrum bleibt zudem für alle Ratsuchenden aus der Pflege Ansprechpartner.