NÜRNBERG. Die Kirchliche Allgemeine Sozialarbeit, kurz KASA, versteht sich als Lotse im Hilfesystem für Menschen in finanziellen und psychosozialen Notlagen. Wer ein ganzes »Problembündel« mit sich herumträgt, wer nicht weiß, wer ihm überhaupt helfen kann oder einfach Rückendeckung im zehrenden Hin und Her mit den Ämtern braucht, stößt hier auf offene Ohren. In der KASA-Stelle der Nürnberger Großstadt hat sich »Existenzsicherung« als Arbeitsschwerpunkt herauskristallisiert.
Folgen der Agenda 2010 dominieren KASA-Arbeit in Nürnberg
Die Türen der KASA Nürnberg stehen Menschen seit genau 20 Jahren offen. Waren es am Anfang überwiegend noch ältere Menschen, die sich hier beraten ließen, haben die Hartz-Reformen das Publikum der Hilfestelle radikal verändert. Alleinerziehende Mütter, ältere Menschen mit psychischen Handicaps sowie Personen mit begrenzten Deutschkenntnissen zählen heute zu den häufigsten Klienten*innen der Beratungsstelle. Sie alle sind überfordert oder erschöpft vom scheinbar endlosen Hin und Her mit Jobcentern, Sozialamt und Rentenkassen. Von Anträgen und Wiederholungsanträgen. Von immer neuen Auflagen und Nachweispflichten, die sie in langen, kantigen Schreiben auf Juristendeutsch erreichen.
Das Team der KASA berät sie »klar und transparent« über das gesetzlich und persönlich Machbare. Joachim Urban, seit 2009 Leiter der Nürnberger KASA, stellt aber auch klar: »Wir ergreifen immer Partei für unsere Klienten.« Etwa 900 Menschen und 1600 Beratungen sind das pro Jahr. 70% der Hilfesuchenden sind Frauen.
»Die Mütter, mit zwei, drei Kindern. Frauen, die sich alleine mit Jobs und Familie über Wasser halten, die haben es mit den Ämtern besonders schwer«, meint Urban. Sie müssten ständig neue Anträge und Nachweise für ihre Kinder sowie Zuschüsse und Leistungen zur Grundsicherung erstellen. Trotz Arbeit rund um die Uhr. »Die rudern und rudern und stehen dann noch in ständiger Rechtfertigungspflicht für Leistungen, die ihnen zustehen. Das Fordern dominiert das Fördern.« Urban stört aber nicht nur das Grundmisstrauen. Dass das Kinderhaben für Frauen ein massives Armutsrisiko sei, empfindet er als »Fiasko« – erst recht, weil das bereits seit Jahren politisch so hingenommen werde.
Hartz IV kein soziales Gesetz
Urban kritisiert die Hartz-Gesetze bis heute scharf: »Hartz IV ist ein rein ökonomisches Gesetz und kein soziales. Es hat die Spaltung unserer Gesellschaft vorangetrieben.«
Über 900 Beratungsfälle im Jahr zeigen für den Sozialpädagogen, dass der Betrug um Sozialleistungen ein »Scheinproblem« in unserem Land sei. Die meisten seien mit den normalen Ämterverfahren schon überfordert, gezielter Betrug sei erst recht außerhalb des Leistbaren. Urban konstatiert auch, dass sich nur »ein verschwindend geringer Teil von Menschen nicht um Arbeit bemüht«. Doch der 1. Arbeitsmarkt habe für Ungelernte oder Leute, die aus psychosozialen Gründen den üblichen Anforderungen von Arbeitgebern*innen nicht standhielten, kaum ein Angebot, geschweige denn für viele. »Diese Menschen können sich nicht halten, gelten dann als zu langsam, zu oft krank oder zu schwierig in der Kommunikation. Ich kenne niemanden, der arbeiten kann, sich aber freiwillig auf Hartz IV ausruht«, so Urban.
Sanktionen schon immer unsinnig
Das jüngste BGH-Urteil zu den Hartz IV-Sanktionen war für Joachim Urban längst überfällig. »Die Sanktionen haben Menschen, die in einer Sackgasse stehen noch weiter in die Enge getrieben.« »Menschenunwürdig« und »unnötig« sei das gewesen, da schon der Regelsatz zur Grundsicherung aus seiner Sicht zu knapp sei.
Joachim Urban und sein Team erleben das tagtäglich: Kleine Reparaturen im Haushalt, eine Nebenkostennachzahlung, ein paar neue Winterschuhe für den Sohn – solche Dinge werfen die Monatsplanung von Familien oder Menschen, deren Einkommen aufgestockt werden müssen, immer wieder aus der Bahn. Noch schwieriger wird es, wenn deren Mieten nicht in voller Höhe vom Amt erstattet werden. In solch existenziellen Notlagen kann die KASA meistens mit einer kleinen Spende für das Nötigste – in der Regel für den nächsten Einkauf – aushelfen. »Extrem entlastend« sei das für die KASA-Berater*innen, die in Krisen ja häufig nicht nur erste Ansprechpersonen, sondern gleichermaßen erste Hoffnung für Menschen sind.
Typisch sei auch, erzählt Urban, dass Frauen oder Männer, die kein sicheres Deutsch sprechen oder nie mit den Ämtern zu tun hatten, in Notlagen weder ausreichend Erfahrung noch Sprachkenntnisse haben, um Formulare, Zuständigkeiten und Behördenabläufe zu verstehen.
Sprachhürden und Unwissen Ursache für Existenznot
So ging es auch Fatma Cobano, die vor über 30 Jahren als jung Verheiratete aus der Türkei mit ihrem Mann nach Deutschland kam. Die gewaltvolle Ehe ging auseinander, am Ende zog Fatma Cobano allein vier Kinder in Nürnberg groß. In einer Wäscherei und weiteren hauswirtschaftlichen Jobs sorgte sie für das Familieneinkommen. Die Kinder wussten den Einsatz der Mutter zu schätzen. »Sie hat uns von dem bisschen jede Woche noch 2 EUR Taschengeld hingelegt. Das war toll«, erzählt die heute 41-jährige Tochter. Irgendwann konnte Fatma Cobano nicht mehr schuften, wurde chronisch lungen- und herzkrank. Mit Hilfe einer älteren Nachbarin, der sie zur Hand ging, konnte sie sich trotzdem lange ohne Ämter über Wasser halten. Bis auch diese starb.
Fatma Cobano wusste nicht, dass sie neben ihrer Mini-Rente, die sie komplett in ihre Miete steckt, Anspruch auf weitere staatliche Hilfen und gesundheitliche Versorgung hat. Bis sie Hilfe bei der KASA suchte. Jetzt ist zwar Cobanos Existenz gesichert und auch für Pflege ist gesorgt, trotzdem fehlt es an allen Ecken und Enden. Fatma Cobano schämt sich dafür. Sie zeigt auf ihr Oberteil: »Diese Bluse hier anziehen, waschen, wieder anziehen, waschen.« Die Tochter Buket ergänzt: »Mama geht nicht zu Kur, weil sie keinen Schlafanzug zum Wechseln hat.«
Traurige Schicksale wie diese gibt es in Nürnberg zu Hauf. »Wir haben nie für die KASA werben müssen. Die Flure sind immer voll«, sagt Joachim Urban.
Abschied mit Appell
Ab Mai übernimmt Urbans Kollegin, Christine Mürau, die Leitung der KASA in Nürnberg. Joachim Urban hat das Rentenalter erreicht.
Was erhofft er sich für seine Klienten*innen und sein Team? »Einen solidarischen, gebündelten Bürgerservice statt eines Behördendschungels«. Damit die Leute nicht mehr erforschen müssen, welche Leistungen ihnen zustehen und wo sie diese erhalten.
Diese staatliche Fürsorge und menschenfreundliche Haltung sei gerade dann gefragt, wenn die gegenseitige, zivilgesellschaftliche Solidarität wieder abnehme, meint Urban. »Die anstehende Rezession wird neue Verteilungskämpfe aufflammen lassen. Es wird nicht leichter werden für die sozial Schwächsten unter uns.«