»Ich wollte nie die Mama sein«

KATJA GEORGI (R.) mit ihrem Mann Thomas, Tochter Gesa Hocheder, Sozialarbeiter Sebastian Ohle und Hund »Pepper« in der Familienwohngruppe.

Als erstes kommt einem »Pepper« entgegen; gemächlich und ohne Hast. Der in die Jahre gekommene, braune Labrador fordert eine ausgiebige Streicheleinheit ein. »Pepper« hat die Ruhe weg. Genau die tut auch den Kindern und Jugendlichen gut, die hier leben. 

Der Älteste ist 18 Jahre alt und macht eine Ausbildung. Die anderen vier Mädchen und Jungen kommen gerade von der Schule zurück. Vorsichtig linst einer der Jungs ins große Altbau-Wohnzimmer, wo Katja Georgi, ihr Mann Thomas, Tochter Gesa Hocheder und Sozialarbeiter Sebastian Ohle vom Leben und Arbeiten in der Familienwohngruppe erzählen.

Es geht trubelig zu am Tisch, es wird viel gelacht. Die erste Lektion, die man von Katja Georgi, Gymnasiallehrerin und Pädagogin, mitbekommt? »Man braucht Humor, damit man das nicht tragisch nimmt.« »Das« – das sind die vielen an Tragik kaum zu überbietenden Lebensgeschichten der Kinder, die hier ein Zuhause finden. Das sind Gewalterfahrungen, Missbrauch oder schwere Vernachlässigung.

Seit über 30 Jahren kümmert sich Katja Georgi im Auftrag der Stadtmission hochprofessionell um Kinder, die von Jugendämtern aus ihren Familien genommen wurden oder keine Eltern mehr haben. Ihre Schützlinge leben im Schnitt zwei bis vier Jahre lang in der Familie. Jedes Kind hat sein eigenes Zimmer. Gegessen wird gemeinsam in der großen Wohnküche, wo gleich Ofengemüse aufgetischt wird. Das Schlafzimmer der Georgis liegt am anderen Ende des Flurs. Privatsphäre? Die wird hier zum kostbaren Gut – und zur Verhandlungsmasse. Als ein Kind aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen einfach nicht allein schlafen konnte, »haben wir die Matratze vor unser Bett gelegt«. 

Sicheres Umfeld für die Kinder

Wie denn das so sei, wenn einem die Kinder so richtig ans Herz wachsen, will man wissen. Doch Sentimentalität ist die Sache der 66-Jährigen nicht. »Ich wollte nie die Mama sein, ich bin nicht die Mama«, sagt Georgi  resolut. »Ich bin der Chef hier«, fährt sie fort und lacht wieder dieses einnehmende Lachen. Ihr Rezept? Sie behandelt alle Kinder gleichermaßen fair, sie fördert sie individuell und bietet ihnen ein sicheres Umfeld mit einer guten Versorgung. Dann kommt die Bindung oft ganz von alleine – wie bei Luca Mühle (18) zum Beispiel, der seit Jahren hier lebt. »In der Familienwohngruppe ist es wie in einer Großfamilie, ziemlich viel Chaos, aber jeder geht mit jedem gut um«, sagt Luca. Wobei zur Wahrheit auch gehört, dass manche Kinder so schlimme Erfahrungen gemacht haben, dass sie sich schwertun, noch einmal jemandem zu vertrauen und eine Beziehung einzugehen. 

»Wir sind realistisch geworden«, ergänzt Gesa Hocheder, die längst erwachsene leibliche Tochter der Georgis. Sie ist genau deswegen oder trotz allem in die Fußstapfen der Mutter getreten und leitet den Bereich »Chancen für junge Menschen« bei der Stadtmission. Als Kind mussten Gesa Hocheder und ihre Schwester ihre Mutter mit den anderen Kindern teilen. »Ich kenne das nicht anders«, sagt sie. »Die Vorteile waren: Ich hatte immer jemanden zum Spielen, und Mama war immer zuhause.« 

Ein Vorteil, den die ganze Familie und vor allem die Kinder schätzen? Das Leben auf dem großen Gelände des Martin-Luther-Hauses im Nordostpark mit seinem kleinen Bauernhof und den (Therapie-) Pferden. Die Georgis haben selbst zwei eigene Pferde hier. »Ich bin praktisch auf einem Reiterhof großgeworden«, schwärmt Gesa Hocheder. Früher war noch ein Schwimmbad ums Eck.

Doch die Idylle trügt. Es gab Zeiten, da ging die Polizei in der Wohnung ein und aus, weil sich Kinder selbst gefährdeten oder auf andere losgingen. Bei manchen half nur noch die Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. »Wir hatten harte Zeiten«, sagt Katja Georgi, die sich für ihre Arbeit mit Kindern ständig weitergebildet und eine Ausbildung in Traumapädagogik hat. Zum Glück hat am Ende die ganze Familie dieses Modell mitgetragen. »Ohne familiäre Unterstützung hätte ich es nicht geschafft.«

Die Unterstützung sitzt mit am Tisch und hört vor allem zu. »Ich bin extra um fünf Uhr morgens aufgestanden, damit ich die Dusche für mich habe«, erzählt Thomas Georgi (70). »Und tagsüber konnte ich ja zur Arbeit gehen«, fährt der ehemalige Siemens-Angestellte fort und lacht.

Wie eine Familie 

Ohne kleine Fluchten aus dem Alltag ist ein Rund-um-die-Uhr-Leben mit zeitweise sieben Kindern nicht möglich. Sozialarbeiter Sebastian Ohle unterstützt die Georgis dabei. »Auch für Mitarbeitende ist das hier eher wie eine Familie«, sagt er. 

Und jetzt? Katja Georgi ist seit August Rentnerin. Die Kinder haben in anderen Einrichtungen ein Zuhause gefunden, das Modell »Familienwohngruppe« ist Geschichte – unter anderem deshalb, weil es schwer ist, für diese intensive Betreuungsform Nachfolger*innen zu finden. Johannes Mathes, Bereichsleiter der Kinder- und Jugendhilfe bei der Stadtmission, bedauert das durchaus. Er ist ein Anhänger dieses Modells, weil die Kinder feste Bezugspersonen haben: »Die Beziehungskontinuität ist länger, es kann familienersetzend wirken.« 

Die Georgis sind derweil aufs Land gezogen und finden sich in ihr neues Leben ein. Katja Georgi: »Das normale Wohnen müssen wir noch üben.«

Text: Sabine Stoll

Hilfe im Leben – Stadtmission Nürnberg