»Und wenn’s nur einer ist«

Aufgrund 

seiner eigenen Biografie kann sich Timmy mit Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen identifizieren – und authentisch über das schwere Leben im Gefängnis und danach aufklären.

25 Jugendliche aus zwei Berufsschulen haben gerade am Gewalt- und Suchtpräventionsunterricht von »Gefangene helfen Jugendlichen« teilgenommen. Die Schüler*innen durchlaufen aktuell das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ). »Das ist eigentlich wie ein Auffangbecken«, erklärt Judith Edenreuther (Name geändert). Denn hier sammeln sich alle, die sonst »aus dem System rausfallen«. Also zum Beispiel die Mittelschule abgeschlossen, aber noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben oder die Ausbildung unter dem Jahr abbrechen, aber noch schulpflichtig sind. Edenreuther ist Quereinsteigerin. Als Sozialpädagogin hat die 41-Jährige bereits an Schulen gearbeitet und kennt die Probleme der Jugendlichen gut. 

Beim Präventionsunterricht heute seien so viele im Unterricht gewesen wie sonst fast nie. Und das, obwohl es etwas Neues ist – denn das sei für die Jugendlichen hier ohnehin oft schwierig. »So einige in meiner Klasse haben unverschuldet dramatische Lebensgeschichten«, weiß Edenreuther. Ein großer Teil komme aus einfachen Verhältnissen und auf die Ausbildung der Kinder werde zuhause wenig geschaut. »Das ist einfach Pech.« Oder sie kämen aus guten Verhältnissen und seien auf die schiefe Bahn geraten. Zwischen 15 und 19 Jahre alt sind die Schüler*innen. Viele von ihnen haben schon mehr oder weniger Kontakt mit Kriminalität oder der Justiz gehabt. Edenreuthers Eindruck ist, dass im Leben von Jugendlichen heute »alles eine Spur dramatischer« ist als früher. Allein, welche Arten von Drogen im Umlauf seien, nennt sie »Wahnsinn«. Rapper prahlten etwa mit der Einnahme des Medikaments Tilidin, und die Jugendlichen glaubten, das sei wirklich cool. 

 

Auch Timmy sagt, früher habe es eben Gras und Koks gegeben, heute sei es »eine andere Welt«. Timmy hat heute das erste Mal den Präventionsunterricht für »Gefangene helfen Jugendlichen« durchgeführt und war deshalb etwas aufgeregt. Der 60-Jährige hat erlebt, wie sich 17 Jahre Gefängnis, davon acht am Stück, wirklich anfühlen und was sie mit einem machen. Diese Erfahrung hat er heute mit den Schülern*innen geteilt und sich ihren Fragen gestellt: »Gibt es wirklich Gangs im Gefängnis?« Ja, die Hierarchien unter den Insassen seien ziemlich streng. Timmy beschreibt es als »Subkultur« mit eigenen Gesetzen. Er musste erleben, wie sein Kumpel von Mithäftlingen angegriffen und erstochen wurde. Ein Erlebnis, das er nie vergessen wird. »Geht ihnen der Knast immer noch nach?« Auch heute habe Timmy noch gelegentlich Albträume oder schrecke auf, wenn er einen Schlüsselbund klimpern hört. »Es gibt niemanden, der im Knast nicht weint.« Die Leidtragenden seien aber die Familien draußen, gibt er zu bedenken. Drinnen habe man recht bald einen Automatismus. »Aber man kann doch arbeiten, oder?« Es gibt zwar Jobs, zum Beispiel in der Küche oder der Wäscherei, aber meist reichten die Arbeitsplätze nicht mal für jeden zehnten Gefangenen, sagt Timmy. Und 1,50 Euro ist ein sehr geringer Stundenlohn. Die allermeisten Insassen hätten also nichts zu tun. Es gäbe zwar Planstellen für sozialpädagogische und psychologische Betreuung, die Anzahl sei aber gegenüber hunderten Gefangenen »nur ein Tropfen auf den heißen Stein«. »Wie ist das mit Sex im Gefängnis?« Familienzimmer gibt es in bayerischen Justizvollzugsanstalten nicht. 

Und dann war alles anders

Glücklicherweise habe er irgendwann Kontakt zu einem Pfarrer und ehrenamtlichen Seelsorgern*innen gehabt, die sich bemühten, eine Brücke zwischen der Gesellschaft draußen und den Häftlingen zu bauen. Schon in Haft begann Timmy, sich selbst zu engagieren und leitete Gruppen für andere Gefangene. Der christliche Verein »Set free«, ein Netzwerk für Gefangene, das Selbsthilfe und Reintegration fördert, sei ihm dabei »eine große Stütze« gewesen. Nach seiner Entlassung 2016 hat er bei der Stadtmission Hilfe gefunden. Dafür ist er dankbar, denn in den Angeboten sei »Linie drin«. Ein Jahr später traf er eine neue Liebe und hängte sich richtig ins Zeug. Der gelernte Maler fand eine eigene Wohnung und baute sein heute erfolgreiches Transport- und Umzugsunternehmen auf.

Auch über das Leben nach der Entlassung will er die Jugendlichen aufklären. »Nach der Haft ist fast nichts mehr so wie vorher.« Etwa an den Straßenverkehr habe er sich erst wieder gewöhnen müssen. Im Gefängnis sei man abgeschirmt und laufe lediglich seine Kreise im Hof. Viele kommen zudem mit einem riesen Schuldenberg zurück in die Freiheit, weil sie zum Beispiel Prozesskosten bezahlen müssen.

All das vermittelt Timmy durch seinen Einsatz bei »Gefangene helfen Jugendlichen« den Schülern*innen aus erster Hand. Seine eigene kriminelle Laufbahn begann schon im frühen Teenageralter und »der Groschen ist erst zum Schluss gefallen«. Als ältestes Kind eines alkoholkranken und gewalttätigen Vaters habe es ihm an guten Vorbildern gefehlt. Dass er während seiner Haft in der JVA Kaisheim den christlichen Motorradclub Holy Riders kennenlernte, beschreibt er als Anstoß zu seinem neuen Leben. Heute sagt er: »Ich habe meinen ganz persönlichen Vertrag mit Gott.« Die Jugendlichen seien zu locker und leichtgläubig, meint er, die Konsequenzen von ersten kriminellen Handlungen oft nicht klar. Weil er sich damit identifizieren kann, möchte er »aufrütteln« und zeigen, »was tatsächlich los ist« im Gefängnis. Nur wer das mitgemacht hat, könne wirklich »aus dem Nähkästchen« berichten. »Und wenn‘s nur einer ist, dem man hilft.«

Die Schüler*innen möchten so etwas gern öfter machen: Sie habe wirklich viel Neues erfahren, schreibt eine Jugendliche in ihrem anschließenden freiwilligen Bericht, ein anderer meint sogar »mehr als im ganzen Schuljahr vorher«. 

Kay Putsche, Leitung des Projekts »Gefangene helfen Jugendlichen«, ist klar, warum. »Die Perspektive von jemandem, der sich ein Leben nach der Gefangenschaft erst wieder hart erkämpfen musste, kannten sie vorher nicht.«

Klassenleiterin Judith Edenreuther wünscht sich mehr Geld für Kinder und Jugendliche, damit sie langfristig begleitet werden.

Text: Anna Thiel

Hilfe im Leben – Stadtmission Nürnberg